Systemtheorie und Signale

Veröffentlicht von - am 16.06. 2020 um 15:24 - 7 Kommentare

Interessant wäre es zu schauen, wie ‚Signal‘ als sytemtheoretischer Begriff ausgearbeitet werden könnte.

7 Kommentare

  • Rolf Balgo schrieb:

    Peter: „Wenn ich es genau nehme, muss man den Ausdruck ‚Anzeichen‘ untersuchen – unter der Bedingung, dass nichts sich ‚zeichenfrei‘ anzeigt, sondern immer schon in Sinn (insbesondere im Medium ‚Sprache). Wenn ich Wittgenstein aufgreifen darf: Es gibt nicht ‚rot‘; sondern nur das Wort ‚rot‘. Die ‚Färbigkeit‘ ist nicht die Eigenschaft eines ‚Dinges‘. Ein bisschen komisch formuliert: Die Psyche hätte nicht die Eigenschaft der ‚Psychheit‘. “

    Wenn ich Dich richtig verstanden habe, Peter, dann gehst Du sowohl davon aus, dass die ‚Färbigkeit’ nicht die Eigenschaft eines Dings ist, als auch davon, dass die Färbigkeit auch nicht die Eigenschaft einer Empfindung ist, sondern allein ein Konstrukt der Sprache. Mein Eindruck ist aber, dass Wittgenstein dies an manchen Stellen anders sieht. Wittgenstein wendet sich, ähnlich wie Du, in seinen späteren Texten vehement gegen die Ansicht , dass die Begriffe der Erfahrung, des Denkens, des Empfindens, der Intention, der Erwartung usw. für etwas Inneres, Privates stehen, das nur dem Individuum zugänglich ist, das sie hat. Für Wittgenstein ist die Aussage „Ich habe Schmerzen“ also auch kein Bericht über private innere Zustände, aber sie ist vielmehr Ausdrucksmoment, die einen Teil unseres Verhaltens bildet, worauf dann fragliche psychologische Begriffe angewendet werden.

    Wittgenstein (Philosophische Untersuchungen, § 244) schreibt: „[…] wie lernt ein Mensch die Bedeutung der Namen von Empfindungen? z.B. des Wortes >>Schmerz<<. Dies ist eine Möglichkeit: Es werden Worte mit dem ursprünglichen, natürlichen Ausdruck der Empfindung verbunden und an dessen Stelle gesetzt. Ein Kind hat sich verletzt, es schreit; und nun sprechen ihm die Erwachsenen zu und bringen ihm Ausrufe und später Sätze bei. Sie lehren das Kind ein neues Schmerzbenehmen.“

    A.C. Grayling (1944, 117) schreibt in seinem Buch ‚Wittgenstein’ dazu: Nach Wittgenstein ist die Aussage „Ich habe Schmerzen“ eine Erscheinungsform seines Schmerzes und nicht etwa ein äußeres Zeichen für etwas anderes, das innerlich vor sich geht; die Äußerung ist selbst Teil des Schmerzbenehmens. Sie ist ebenso ein Ausdruck von Schmerz wie das Stöhnen oder das Verziehen des Gesichts, aber sie ist ein erlernter Ersatz für diese ‚primitiveren’ Ausdrucksformen. Worte wie „Schmerz“ beschreiben nach Wittgenstein keine innere Empfindung, obgleich das Wort und sein Ton eine Äußerung einer Empfindung sein können (vgl. Wittgenstein, L., Philosophische Untersuchungen, 582). Das Wort ist ein Verhalten, aber keine Beschreibung oder kein Bericht des Schmerzempfindens, es ist Teil des Schmerzes. Das Sprachverhalten (das Wort „Schmerz“) ist eine Erweiterung der natürlichen Ausdrucksformen für Schmerz. Die Bedeutung von Wörtern wie „Schmerz“ lässt sich daher nicht durch eine private, eine nach innen gerichtete hinweisende Erklärung bestimmen.

    Ich würde das so verstehen, dass nach Wittgenstein das Stöhnen oder Wörter wie z.B. „Schmerz“ Teil von (Gemüts-)Empfindungen sind bzw. dass sich diese im Verhalten vollziehen, ähnlich wie sich Gedanken in Sprache vollziehen. Ich sehe hier Parallelen zu Wygotski, der schreibt: „Das Sprechen ist seiner Struktur nach keine spiegelhafte Abbildung der Struktur des Denkens. Es kann deshalb dem Denken nicht wie ein fertiges Kleid übergestülpt werden. Das Sprechen dient nicht als Ausdruck des fertigen Gedanken. Indem sich der Gedanke in Sprechen verwandelt, gestaltet er sich um, verändert er sich. Der Gedanke drückt sich im Wort nicht aus, sondern vollzieht sich im Wort.“ Wenn man das auf ‚Empfindungen’ überträgt könnte man folgendes formulieren: Das Verhalten (Stöhnen, das Sprechen des Wortes „Schmerz“) ist seiner Struktur nach keine spiegelhafte Abbildung der Struktur des Empfindens. Es kann deshalb dem Empfinden nicht wie ein fertiges Kleid übergestülpt werden. Das Verhalten dient nicht als Ausdruck der fertigen Empfindung. Indem sich die Empfindung in ein Verhalten (Stöhnen, Sprechen des Wortes „Schmerz“) verwandelt, gestaltet sie sich um, verändert sie sich. Die Empfindung drückt sich im Verhalten nicht aus, sondern vollzieht sich im Verhalten. Sowohl bei Wittgenstein als auch bei Wygotski sehe ich damit auch Ähnlichkeiten zu William James, nach dem wir nicht weinen, weil wir traurig sind, sondern traurig sind, weil wir weinen. Das Sprachverhalten wäre somit eine symbolische Erweiterung oder Modifikation der Ausdrucksformen von Verhalten. Teilst Du meine Interpretation von Wittgenstein, siehst auch Du dabei Parallelen zu den Zitaten von Wygotski und James und geht Deine Perspektive in eine ähnliche Richtung oder weichst Du noch einmal davon ab, in dem Du der Sprache Priorität einräumst?

  • Peter Fuchs schrieb:

    „Wenn ich Dich richtig verstanden habe, Peter, dann gehst Du sowohl davon aus, dass die ‚Färbigkeit’ nicht die Eigenschaft eines Dings ist, als auch davon, dass die Färbigkeit auch nicht die Eigenschaft einer Empfindung ist, sondern allein ein Konstrukt der Sprache. Mein Eindruck ist aber, dass Wittgenstein dies an manchen Stellen anders sieht.“

    Lieber Rolf et al.,

    bei Wittgenstein geht es um ‚Sprache‘; ich würde eher an ‚Kommunikation‘ denken, wenn ich auch die Konsequenzen im Moment nicht überblicke.“

    „Wittgenstein wendet sich, ähnlich wie Du, in seinen späteren Texten vehement gegen die Ansicht , dass die Begriffe der Erfahrung, des Denkens, des Empfindens, der Intention, der Erwartung usw. für etwas Inneres, Privates stehen, das nur dem Individuum zugänglich ist, das sie hat. Für Wittgenstein ist die Aussage „Ich habe Schmerzen“ also auch kein Bericht über private innere Zustände, aber sie ist vielmehr Ausdrucksmoment, die einen Teil unseres Verhaltens bildet, worauf dann fragliche psychologische Begriffe angewendet werden.“

    Das Problem ist wie immer, dass das, was formuliert werden soll, im Augenblick, in dem Beobachtung als Begriff angesetzt, schon unter Beobachtung fällt. ‚Verhalten‘ ist nach wie vor für mich ein problematischer Begriff; er ist alltäglich (und unausweichlich) evident, nur: Sobald man dieses Wort auf ‚begrifflich‘ stellt, treten massive Probleme auf.

    „Dies ist eine Möglichkeit: Es werden Worte mit dem ursprünglichen, natürlichen Ausdruck der Empfindung verbunden und an dessen Stelle gesetzt. Ein Kind hat sich verletzt, es schreit; und nun sprechen ihm die Erwachsenen zu und bringen ihm Ausrufe und später Sätze bei. Sie lehren das Kind ein neues Schmerzbenehmen.“

    Für mich sind eben Ausdrücke wie ‚ursprünglich, natürlich, Empfindung‘ schwierig. Sie klingen, als ginge es um Ur-Phänomene wie bei Goethe – um eine Stoppregel: „„Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist. Die Bläue des Himmels offenbart uns das Grundgesetz der Chromatik. Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre.“ (Wilhelm Meisters Wanderjahre)
    Das Sprachverhalten wäre somit eine symbolische Erweiterung oder Modifikation der Ausdrucksformen von Verhalten. Teilst Du meine Interpretation von Wittgenstein, siehst auch Du dabei Parallelen zu den Zitaten von Wygotski und James und geht Deine Perspektive in eine ähnliche Richtung oder weichst Du noch einmal davon ab, in dem Du der Sprache Priorität einräumst?“

    „Ich hatte oben ja schon gesagt, dass ich nicht die Sprache meine. Ich arbeite, wie Du weißt, an dem Theorem der Verschränkung von Kommunikation und Kognition. In dem Zusammenhang wird der Körper wieder wichtig. Er dürfte (müsste?) in diese Verschränkung eingebaut werden. Vielleicht könnte man ihn Brechungsmilieu (Paul Valéry) für Sinn auffassen. Dann wäre er niemals ‚Er‘.

    Herzliche Grüße

    Peter

    • Rolf Balgo schrieb:

      Lieber Peter, liebe Runde,

      „Das Problem ist wie immer, dass das, was formuliert werden soll, im Augenblick, in dem Beobachtung als Begriff angesetzt, schon unter Beobachtung fällt.“

      Das lässt sich nicht vermeiden. Es ließe sich nur angeben, mit welcher Differenz man startet. Wenn Beobachten = Unterscheiden und Bezeichnen meint (z.B. System/Umwelt), meint dann die Idee der ‚Verschränkung’, nicht mehr zu unterscheiden und zu bezeichnen oder an einen beobachtungsfreien und somit unterscheidungsfreien Ausgangspunkt zu gelangen?

      Peter:
      „‚Verhalten‘ ist nach wie vor für mich ein problematischer Begriff; er ist alltäglich (und unausweichlich) evident, nur: Sobald man dieses Wort auf ‚begrifflich‘ stellt, treten massive Probleme auf.“

      Das wäre doch ein aus systemtheoretischer Sicht interessanter Versuch, sich zu fragen, wovon sich ‚Verhalten’ unterscheidet. Im Luhmann-Lexikon von Krause (227) lese ich unter ‚Verhalten’:

      „Verhalten oder menschliches Verhalten ist sinnhaftes Verhalten. Es drückt sich wahrnehmbar körperlich (Bewegung, Gestik, Mimik) und als sinnorientiert wahrnehmbar aus. Deshalb umfasst Verhalten ‚Erleben und Handeln’ und ist in dieser Unterscheidung wie in den Anschlüssen an ihre eine oder andere Seite stets Zurechnungsleistung (Attribution) eines Beobachters.“

      Peter:
      „Für mich sind eben Ausdrücke wie ‚ursprünglich, natürlich, Empfindung‘ schwierig. Sie klingen, als ginge es um Ur-Phänomene wie bei Goethe […].“

      Bei Wittgenstein mag das so aussehen, weil er von ‚ursprünglicher’ und ‚natürlicher’ Empfindung spricht, aber man könnte diese (die Sinnesempfindung, als das Was der Wahrnehmung – die Gemütsempfindung, als das Wie der Wahrnehmung – und den Anschluss) auch als Operationsform des psychischen Systems auffassen.

  • Ludger DeWendt schrieb:

    Lieber Rolf,
    ‚Verhalten‘ ist für mich ein Allgemeinplatz; ich wüsste nicht, wie sich Verhalten von Nicht-Verhalten unterscheidet. Insgesamt ist ‚Verhalten‘ für mich ein Ausdruck, den ich mit menschlicher Bewegung verbinde; also eher an Körper binde, denn an soziale Phänomene.
    „Ich würde das so verstehen, dass nach Wittgenstein das Stöhnen oder Wörter wie z.B. „Schmerz“ Teil von (Gemüts-)Empfindungen sind bzw. dass sich diese im Verhalten vollziehen, ähnlich wie sich Gedanken in Sprache vollziehen.“
    Das setzt voraus, dass ‚Empfindungen‘ schon definiert wären; aber wenn wir von Verschränkungs-Phänomenen ausgehen, wird nochmal deutlich, wie wenig definiert dieser Terminus ist. Er kommt daher als wüsste man schon, was das sei.
    Interessant finde ich deine Aussage, dass sich Gedanken in Sprache vollziehen. Ich weiß aktuell gar nicht, wie sich Gedanken in Sprache vollziehen können. Wenn ich schwierige Aussagen treffen muss, kommen häufig Worte heraus, die ich so gar nicht gedacht hatte und manchmal wundere ich mich, wo diese nun auf einmal herkommen. Ich habe manchmal, ähnlich wie beim Schreiben, das Gefühl, dass die Worte vor den Gedanken kamen und ich dann retrospektiv denke, dass das meine Gedanken waren. Vielleicht kannst du das genauer erklären.

    • Rolf Balgo schrieb:

      Lieber Ludger, liebe Runde,

      Ludger:
      „‚Verhalten‘ ist für mich ein Allgemeinplatz; ich wüsste nicht, wie sich Verhalten von Nicht-Verhalten unterscheidet. Insgesamt ist ‚Verhalten‘ für mich ein Ausdruck, den ich mit menschlicher Bewegung verbinde; also eher an Körper binde, denn an soziale Phänomene.“

      Du tust so, als ob ‚Verhalten’ in der Systemtheorie ein Unwort ist (Gegenbeispiele siehe unten). Wenn Du ‚Verhalten’ nicht von ‚Nicht-Verhalten’ unterscheiden kannst, dann verhält sich alles. Die interessante Frage, die Peter ja aufgeworfen hat, ist die, wie sich dieses Wort begrifflich stellen lässt: wovon lässt sich Verhalten unterscheiden (von Handlung, von Bewegung, von Tätigkeit, von Kommunikation usw.)?

      Luhmann selbst spricht an verschiedenen Stellen von Verhalten. Hier nur ein paar Beispiele:

      „Ferner muss jemand ein Verhalten wählen, das diese Information mitteilt. Das absichtlich oder unabsichtlich geschehen.“ (Soziale Systeme, 195)

      „Kommunikation kommt nur zustande, wenn diese zuletzt genannte Differenz beobachtet, zugemutet, verstanden und der Wahl des Anschlussverhaltens zugrunde gelegt wird.“ (Soziale Systeme, 196)

      „Das heißt nicht, dass Handeln nur in sozialen Situationen möglich wäre; aber in Einzelsituationen hebt sich eine Einzelhandlung aus dem Verhaltensfluss nur heraus, wenn sie sich an eine soziale Beschreibung erinnert. Nur so findet die Handlung ihre Einheit, ihren Anfang und ihr Ende, obwohl die Autopoiesis des Lebens, des Bewusstseins und der sozialen Kommunikation weiterläuft. Die Einheit kann, mit anderen Worten, nur im System gefunden werden. Sie ergibt sich aus Abzweigmöglichkeiten für anderes Handeln.“ (Soziale Systeme, 228 f)

      „Wenn Alter wahrnimmt, dass er wahrgenommen wird und dass auch sein Wahrnehmen des Wahrgenommenwerdens wahrgenommen wird, muss er davon ausgehen, dass sein Verhalten als darauf eingestellt interpretiert wird; es wird dann, ob ihm das passt oder nicht, als Kommunikation aufgefasst, und das zwingt ihn fast unausweichlich dazu, es auch als Kommunikation zu kontrollieren.“ (Soziale Systeme, 561 f)

      „Kommunikation kommt deshalb nur zustande, wenn zunächst einmal eine Differenz von Mitteilung und Information verstanden wird. Das unterscheidet sie von bloßer Wahrnehmung des Verhaltens anderer.“ (Soziol. Aufklärung 6, 115)

      Peter schreibt ebenso an verschiedensten Stellen von ‚Verhalten’. Auch hier nur ein paar Beispiele:

      „Bezieht man sich auf wahrnehmende Systeme, die diese Differenz (die Innen/Außen-Differenz, R.B.) bezeichnen können (ergo Bewusstsein exerzieren) wird sofort deutlich, dass nur solche Systeme eine Verhältnis zum Körper entwickeln können (und nicht nur ein Körperverhalten sind) die die Form des Mein annimmt.“ (Der Eigensinn des Bewusstseins, 39)

      “[…] dasjenige, wovon gesagt wird, dass es als katalytisches Problem soziale Systemik in Gang bringt und in Gang hält, [kann] nicht selbst unmittelbar sozial sein, jedenfalls dann nicht, wenn Soziale Systeme nur einen Typ von Operation reproduzieren: Kommunikation, und deswegen zum Beispiel die Körper nicht sehen können, so wenig, wie psychische Systeme in der Lage sind, andere psychische Systeme gleichsam direkt zu ‚erspähen‘. Das gelingt, wenn man so sagen darf, nur indirekt: durch die Inanspruchnahme des Körperverhaltens als Anzeigetableau für psychische Selektivität. Er rückt in die Funktionsstelle einer Stellvertreterschaft ein im Augenblick, in dem Aspekte seines Verhaltens, Gestik, Mimik, Sprechen, Schreiben etc., sinnförmig beobachtet werden, als Wahl aus anderen Möglichkeiten, aber nicht als seine ‚Eigenwahl‘, sondern als die eines Inzitators, eines Anstifters, einer Verhalten veranlassenden Instanz, die sich im Körper aufhält – ‚hinter‘ oder in dem gegen jegliche Sicht abgeschotteten Mantel aus Fleisch.“ (Sinnsystem, 91)

      „Achtet man auf die psychischen Systeme, so kann man sagen, dass sie ‚durchnormiert‘ (oder formatiert) werden. Sprache, Wahrnehmung, Körperverhalten, Sexualität – es gibt offenbar nichts, das sich diesem formatierenden Zugriff entzöge […].“ (Behinderung und Soziale Systeme)

      „Zumindest scheint das Verhalten von manchen Tieren darauf hinzudeuten, daß sie Wahrnehmung geregelt ausnutzen, also durchaus orientiert sind.“ (Die Psyche, 23 f)

      „In den bisherigen Überlegungen schimmerte schon durch (und sei es nur durch die die Vorverweise auf später zu Erörterndes), daß die basale Analyse der Wahrnehmung als präsenter Modus der Welterzeugung sich kaum deckt mit dem, was an wahrnehmenden Lebewesen als orientiertes Verhalten beobachtbar ist. (Psyche, 32)“

      „In jeder organisierten Wahrnehmung müßten demnach Bekanntheitselemente (Redundanzen) eingebaut sein, von denen aus relativ sichere Verweise auf weiter mögliche Wahrnehmung, auf weiter mögliches Verhalten laufen, und Unbestimmtheiten, die durch Variation ins Spiel kommen und möglicherweise zu anderen Dispositionen zwingen.“ (Psyche, 45)

      Als System ist es nicht der bloße Durchsatz von Wahrnehmungen, sondern, wenn man so sagen darf, ein zitierender Durchsatz, der in das kompakt gegenwärtigen Hören, Sehen, Riechen etc. Wiedererkennbarkeiten, Muster, Strukturen einzieht, die zwar nicht beobachtet werden müssen, aber Verhalten orientieren können.“ (Psyche, 123)

      Ludger:
      „Das setzt voraus, dass ‚Empfindungen‘ schon definiert wären; aber wenn wir von Verschränkungs-Phänomenen ausgehen, wird nochmal deutlich, wie wenig definiert dieser Terminus ist. Er kommt daher als wüsste man schon, was das sei.“

      Ich finde, dass Wittgensteins Aussage gut dazu passt, dass Peter ‚Gefühle’ (‚Gemütsempfindungen’ wie Schmerz) als die soziale Interpretation der Wahrnehmung von Körperzuständen beschreibt, die aber nur deshalb möglich ist, weil sich die Körperzustände am ‚äußeren’ Verhalten (z.B. Stöhnen oder ‚Aua’ sagen) vollziehen und dadurch beobachtbar und interpretierbar werden. Hier lassen sich vielleicht Verschränkungen zwischen Körper, Psyche, sozialen Systemen beschreiben?

      Ludger:
      „Interessant finde ich deine Aussage, dass sich Gedanken in Sprache vollziehen. Ich weiß aktuell gar nicht, wie sich Gedanken in Sprache vollziehen können. Wenn ich schwierige Aussagen treffen muss, kommen häufig Worte heraus, die ich so gar nicht gedacht hatte und manchmal wundere ich mich, wo diese nun auf einmal herkommen. Ich habe manchmal, ähnlich wie beim Schreiben, das Gefühl, dass die Worte vor den Gedanken kamen und ich dann retrospektiv denke, dass das meine Gedanken waren. Vielleicht kannst du das genauer erklären.“

      Ich habe das Zitat von Wygotsky in folgender Hinsicht interpretiert: Psychische und soziale Systeme operieren im Medium von Sinn (im Medium von symbolischer Bewegung). Wir denken in Sinn (Sprache) und kommunizieren in Sinn (Sprache). Sprechen könnte vielleicht als eine Art ‚lautes’ Denken aufgefasst werden, wenn wir unsere Gedanken mit Hilfe symbolischer Bewegungen (Sprache) aussprechen. Dabei drückt sich der Gedanke aber nicht im Wort aus, er vollzieht sich jedoch im Wort (siehe Wygotsky). Wenn ich meine bildliche Vorstellung über einen ganz bestimmten ‚Apfel’ in dem Wort ‚Apfel’ vollziehe, weiß nur ich selbst, welchen konkreten Apfel ich mit diesem Wort beschrieben habe. (Aber indem sich die bildliche Vorstellung vom Apfel in Sprache verwandelt, gestaltet sie sich um, verändert sie sich. Die bildliche Vorstellung (z.B. eines Apfels, R.B.) drückt sich in der Sprache (z.B. durch das Wort A-P-F-E-L) nicht aus, sondern vollzieht sich in der Sprache. Ohne die Sprache (Wörter wie Apfel usw.) wiederum, in Bezug auf einen bildlich vorgestellten Apfel, gäbe es keinen bildlich vorgestellten Apfel (versuche einmal Dir einen Apfel als Nicht-Apfel vorzustellen), und ohne einen bildlich vorgestellten Apfel, gäbe es keine Sprache, in Bezug auf den bildlich vorgestellten Apfel. Die Sprache formatiert unsere bildlichen Vorstellungen und Gedanken.) Niemand anderes hat dadurch einen Zugang zu meinen Gedanken oder Vorstellungen von einem konkreten Apfel, weil mein sprachliches Vollziehen meiner Gedanken durch das Wort ‚Apfel’ von anderen immer interpretiert und verstanden werden muss. Es ist daher missverständlich davon zu sprechen, dass sich Gedanken (oder überhaupt Psychisches) sprachlich (oder nonverbal) ausdrücken lassen. Meines Erachtens passt das zu folgendem Luhmann-Zitat (Was ist Kommunikation?, in: Simon, F.B. (Hrsg.), Lebende Systeme., 29):

      „[…] schon bei der geringsten Aufmerksamkeit auf das, was wir selber sagen, wird uns bewußt, wie unscharf wir auswählen müssen, um sagen zu können, was man sagen kann; wie sehr das herausgelassene Wort schon nicht mehr das ist, was gedacht und gemeint war, und wie sehr das eigenen Bewußtsein wie ein Irrlicht auf den Worten herumtanzt, sie benutzt und verspottet […]. Würden wir uns anstrengen, das eigene Bewußtsein […] in seinen Operationen von Gedanken zu Gedanken zu beobachten, würden wir zwar eine eigentümliche Faszination durch Sprache entdecken, aber zugleich auch den nichtkommunikativen, rein internen Gebrauch der Sprachsymbole und eine eigentümlich-hintergründige Tiefe der Bewußtseinsaktualität, auf der die Worte wie Schiffchen schwimmen, aneinandergekettet, aber ohne selbst das Bewußtsein zu sein, irgendwie beleuchtet, aber nicht das Licht selbst.“

      Ebenso wie wir ‚laut’ Denken (also: sprechen) können, wenn sich unsere Gedanken im Medium symbolischer Bewegung bzw. Sprache vollziehen (die wir einem Mitteilungshandelnden zuschreiben), so meine weitere Hypothese, könnten wir vielleicht auch ‚laut’ (non-verbal) wahrnehmen, wenn sich unsere Wahrnehmungen im Medium (nicht-symbolischer) Bewegung vollziehen (und diese sich wiederum motorisch ‚verkörpern’ bzw. vom psychischen System dem eigenen Körper oder anderen Körpern in der Umwelt zugeschrieben werden?

  • Peter Fuchs schrieb:

    „Verhalten‘ ist für mich ein Allgemeinplatz; ich wüsste nicht, wie sich Verhalten von Nicht-Verhalten unterscheidet. Insgesamt ist ‚Verhalten‘ für mich ein Ausdruck, den ich mit menschlicher Bewegung verbinde; also eher an Körper binde, denn an soziale Phänomene.“

    Liebe Leute.

    das ist ja das, worauf ich hinweisen wollte. Bei ‚Verhalten‘ findet sich kein Gegenbegriff, kein Antonym. Diese Lage schreit, wenn man so will, nach einer Opposition. Der Versuch, das Wort definitionsfähig zu mache, wird tatsächlich oft an Menschen und Bewegung geknüpft. Einwenden könnte man, dass die ‚Animalität‘ ausgeklammert wird, die ja auch – qua Leben, also Körper – die Bedingung der Möglichkeit unserer ‚Existenz‘ ist. Ich würde mir aber diese Bemühungen gar nicht zumuten, sondern einfach davon ausgehen, dass ‚Verhalten‘ ja ohnehin nur sinnförmig vorkommt. Ohne dieses Medium kann man über Verhalten nicht reden. Wenn das so ist, lässt es sich (und das tut Luhmann auch) in den Kontext der Verkürzung oder Simplifikation von Kommunikation einordnen. Kommunikation ist (schon wegen der Form der Autopoiesis) nicht beobachtbar. Deswegen wird es nötig, so etwas wie ‚Kenntlichkeit‘ (klassisch: Substanz, Substrat …) zu finden, das die Autopoiesis der Kommunikation phänomenal vertritt. Hier kommt dann Erleben/Handeln ins Spiel, eine ‚Stellvertreterschaft‘ oder eine Art ‚Brechungsmilieu‘. Der Vorteil ist (auch das ist schon angedeutet worden), dass man angeben kann, wie und wann und unter welchen Bedingungen ‚Handeln/Erleben‘ eingesetzt wird. Allerdings stellt sich dann die Frage, warum man nicht sofort Handlung als Grundbegriff der soziologischen Handlungstheorie auffasst. Warum stellt man sich eine ‚Stellvertreterschaft‘ vor? Wozu braucht man Unbeobachtbares wie Autopoiesis, Kommunikation, Kognition? Die Frage ist spannender, als man denken mag. In der Praxis braucht man die Idee des Handelns und des Erlebens. Vermutlich ist diese Frage für Dich, Ludger, ein alltägliches Problem.

    „Interessant finde ich deine Aussage, dass sich Gedanken in Sprache vollziehen. Ich weiß aktuell gar nicht, wie sich Gedanken in Sprache vollziehen können. Wenn ich schwierige Aussagen treffen muss, kommen häufig Worte heraus, die ich so gar nicht gedacht hatte und manchmal wundere ich mich, wo diese nun auf einmal herkommen. Ich habe manchmal, ähnlich wie beim Schreiben, das Gefühl, dass die Worte vor den Gedanken kamen und ich dann retrospektiv denke, dass das meine Gedanken waren. Vielleicht kannst du das genauer erklären.“

    Ich finde, dass die Rekonstruktion einer elementaren Einheit ‚Gedanke‘ ziemlich schwierig ist, ja aussichtslos, wenn man von Autopoiesis und différance spricht. Mit diesen Begriffen formuliert, gibt es dann keine Singularitäten, also etwa: EINEN Gedanken. Die Dinge liegen ähnlich wie bei Kommunikation: EIN Gedanke ist schon eine ‚Brechung‘ des Unbeobachtbaren. Man kann Kognitionen nicht (ver)folgen. Ich selbst habe vor einiger Zeit den Ausdruck ‚Gedanke‘ ersetzt durch ‚Kommentar‘. Das wäre dann eine Stellvertreterschaft. Kommentare sind definitionsgemäß ‚Selektionen‘, die Sprache voraussetzen. Aber ich arbeite gerade an diesen Problemen. Also müsst Ihr, was ich sage, cum grano salis aufnehmen.

    Herzliche Grüße

    Peter Fuchs

    P.S. Ich schlage vor, dass für die einzelnen Kommentare des Forums ‚Schlagwörter‘ zu vergeben, zum Beispiel hier: Verhalten, Erleben/Handeln, Kommunikation, Autopoiesis, Elemente, Singularität, Brechungsmilieu, Medium, Sprache, Gedanke, Kommentar…
    Dann wird erstens klar, worum es gerade geht; zweitens kann man ein Stichwortverzeichnis generieren.

  • Rolf Balgo schrieb:

    Peter:
    „Das ist ja das, worauf ich hinweisen wollte. Bei ‚Verhalten‘ findet sich kein Gegenbegriff, kein Antonym. Diese Lage schreit, wenn man so will, nach einer Opposition. Der Versuch, das Wort definitionsfähig zu mache, wird tatsächlich oft an Menschen und Bewegung geknüpft. Einwenden könnte man, dass die ‚Animalität‘ ausgeklammert wird, die ja auch – qua Leben, also Körper – die Bedingung der Möglichkeit unserer ‚Existenz‘ ist. Ich würde mir aber diese Bemühungen gar nicht zumuten, sondern einfach davon ausgehen, dass ‚Verhalten‘ ja ohnehin nur sinnförmig vorkommt. Ohne dieses Medium kann man über Verhalten nicht reden. Wenn das so ist, lässt es sich (und das tut Luhmann auch) in den Kontext der Verkürzung oder Simplifikation von Kommunikation einordnen. Kommunikation ist (schon wegen der Form der Autopoiesis) nicht beobachtbar. Deswegen wird es nötig, so etwas wie ‚Kenntlichkeit‘ (klassisch: Substanz, Substrat …) zu finden, das die Autopoiesis der Kommunikation phänomenal vertritt. Hier kommt dann Erleben/Handeln ins Spiel, eine ‚Stellvertreterschaft‘ oder eine Art ‚Brechungsmilieu‘. Der Vorteil ist (auch das ist schon angedeutet worden), dass man angeben kann, wie und wann und unter welchen Bedingungen ‚Handeln/Erleben‘ eingesetzt wird. Allerdings stellt sich dann die Frage, warum man nicht sofort Handlung als Grundbegriff der soziologischen Handlungstheorie auffasst. “

    Ich würde zwar zustimmen, dass wir Verhalten ohnehin nur sinnförmig beschreiben, aber dennoch zwischen sinnförmigen und nicht sinnförmigen Verhalten unterscheiden können, wobei letzteres in der Regel der von Dir angesprochenen Animalität zugeschrieben wird. Schwierig, weil ontologisch, finde ich deshalb die Formulierung, dass Verhalten ohnehin nur sinnförmig vorkommt. Interessanter finde ich den Hinweis, dass sinnförmiges Verhalten ein psychisch beobachtetes ‚Verhältnis’ zwischen der Einheit eines Organismus und seiner Umwelt voraussetzt. Ein sinnförmiges Verhalten eines Lebewesens wäre dann ein Verhalten, bei dem das Lebewesen das Verhältnis zwischen seinem Körper als Einheit und seiner Umwelt psychisch beobachten kann. Fehlt diese Unterscheidungsmöglichkeit, dann müsste man entweder von einem ‚nicht sinnförmigen Verhalten’ oder nur von ‚Körperbewegungen’ eines Tieres sprechen (oder davon, dass das Tier das Körperverhalten ‚ist’). Ein erster Vorschlag wäre daher, entweder zwischen einem ‚sinnförmigen/nicht sinnförmigen Verhalten’ oder zwischen ‚Verhalten/Bewegen’ zu unterscheiden, auch wenn diese Unterscheidung nicht eindeutig zu treffen ist. Denn beispielsweise könnten die von uns beobachteten tierischen nicht sinnförmigen Verhaltensweisen uns dennoch als sinnförmig erscheinen, weil wir ein Tier immer als Einheit im Verhältnis zu seiner Umwelt beobachten. Das Tier selbst aber durchläuft aufgrund seiner körperlichen Strukturdeterminiertheit seine einzig ihm mögliche innere Dynamik in Koppelung mit seiner Umwelt, weil es sich mit seiner Umwelt miteinander verschränkt entwickelt.
    Deine Frage, warum man nicht sofort auf Handlung als Grundbegriff umstellt, würde ich damit beantworten, dass Handlung in der Regel als ziel- und zweckgerichtet aufgefasst wird und damit nur sehr eingeschränkt zur Verfügung stehen würde. Um Animalität nicht ausklammern zu müssen, kommen dann in den Erklärungsversuchen der Biologie Triebe oder Instinkte ins Spiel, die für das angeborene Antriebs- und/oder Ausdrucksverhalten von Tieren verantwortlich gemacht werden. Der Trieb oder der Instinkt sorgt dann dafür, dass sich das Tier unbewusst so verhält, als ob es Ziele in seiner Umwelt handelnd verfolgen würde.

    Peter:
    „Ich finde, dass die Rekonstruktion einer elementaren Einheit ‚Gedanke‘ ziemlich schwierig ist, ja aussichtslos, wenn man von Autopoiesis und différance spricht. Mit diesen Begriffen formuliert, gibt es dann keine Singularitäten, also etwa: EINEN Gedanken. Die Dinge liegen ähnlich wie bei Kommunikation: EIN Gedanke ist schon eine ‚Brechung‘ des Unbeobachtbaren. Man kann Kognitionen nicht (ver)folgen. Ich selbst habe vor einiger Zeit den Ausdruck ‚Gedanke‘ ersetzt durch ‚Kommentar‘. Das wäre dann eine Stellvertreterschaft. Kommentare sind definitionsgemäß ‚Selektionen‘, die Sprache voraussetzen.“

    Ich würde hinzufügen: auch eine Empfindung ist schon eine ‚Brechung’ des Unbeobachtbaren oder: eine Empfindung ist keine Empfindung. Mir ist aber unklar, warum Du, Peter, den Ausdruck ‚Gedanke’ durch ‚Kommentar’ ersetzt, anstatt von einem ‚kommentierenden Gedanken’ zu sprechen (Luhmann spricht ja von einem beobachtenden und einem von diesem beobachteten Gedanken). Auch Gedanken wären m.E. Selektionen, die Sprache voraussetzen. Warum lehnst Du den Ausdruck ‚Gedanke’ ab? Ich finde die Rekonstruktion einer elementaren Einheit ‚Kommmentar’ ebenso schwierig. Müsste man nicht eher von ‚Denken’ oder von ‚Kommentieren’ sprechen, um zu verdeutlichen, dass es eher um einen operativen Prozess geht?

    Herzliche Grüße
    Rolf

    P.S.: Es wäre schön, wenn wir auch die Möglichkeit hätten, Worte kursiv oder fett zu kennzeichnen. Vielleicht lässt sich das ja einrichten?

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